In keiner anderen Sportart ist das Thema mentaler Druck derzeit so präsent wie im Tennis. Spätestens seitdem sich die vierfache Grand-Slam-Siegerin Naomi Osaka aufgrund ihres mentalen Gesundheitszustandes während der French Open dieses Jahres freiwillig vom Turnier zurückgezogen hatte und im Anschluss nicht nach Wimbledon gereist war, ging ein Ruck durch die Tenniswelt. Osaka sprach öffentlich über ihre Depression und schärfte damit auf globaler Ebene das Bewusstsein für die Bedeutung der psychischen Gesundheit. Dafür erhielt die 24-jährige Japanerin viel Zuspruch – von Fans, Medien und unzähligen anderen Tennisprofis.

Zusätzliche Aufmerksamkeit hat das Thema mentaler Druck im Profitennis durch die Netflix-Doku-Serie „Untold“ bekommen. In der Episode „Breaking Point“ schildert der ehemalige Spitzensportler Mardy Fish seine Erfahrungen aus dem Jahr 2012: Damals hatte Fish vor dem größten Spiel seiner Karriere gestanden. Im Achtelfinale der US Open wartete Roger Federer auf den US-Amerikaner. Bereits auf der Autofahrt zur Anlage bemerkte Fishs Ehefrau Stacey jedoch, dass sich ihr Ehemann anders verhielt. Schlussendlich entschied sich Fish, auf das Match gegen Federer zu verzichten und nicht anzutreten. Anschließend stürzte er in ein tiefes mentales Loch, aus dem er erst nach vielen Jahren therapeutischer Unterstützung wieder herauskam. Betway Sportwetten hat sich genauer mit dem Thema der psychischen Belastung in Tennis befasst. 

Osaka und Fish sind keine Einzelfälle

Die Beispiele Osaka und Fish sind keine Einzelfälle. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass in den vergangenen Monaten und Jahren viele weitere prominente Tennisspieler und Tennisspielerinnen ihre psychischen Probleme öffentlich thematisiert hatten. Doch die Beispiele Osaka und Fish konnte niemand mehr weghören und sich dem Thema verschließen. Es ist gut, dass daraus ein nachhaltiger, öffentlicher Diskurs entstanden ist. Diese Ansicht teilt auch Marc-Kevin Goellner. Als ehemaliger Tennisprofi kennt sich der 51-Jährige bestens mit der psychischen Belastung der Spitzensportler und Spitzensportlerinnen aus: „Mentaler Druck entsteht bei Tennisprofis häufig dadurch, dass sie ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden und so Stück für Stück in einen negativen Gedankenstrudel geraten.“

Goellner weiß, wovon er spricht. In den Neunzigerjahren stand er zwischenzeitlich auf Platz 26 der Tennis-Weltrangliste. 1993 besiegte er auf dem Sand von Nizza erst Stefan Edberg und fertigte in einem furiosen Finale anschließend den großen Ivan Lendl ab. Im selben Jahr erreichte er das Finale der French Open im Doppel und gewann mit dem deutschen Team den David Cup. Das ist die eine Seite der Medaille. Doch Goellner hat auch die Kehrseite kennengelernt. „In den Wochen nach meinen großen Siegen habe ich häufig nicht mehr so gut gespielt wie vorher. Die Erwartungen an mich selbst haben sich nach Erfolgen brutal potenziert. Dazu kam der mediale Druck. Und plötzlich wurde ich nach einem beeindruckenden Sieg gegen Lendl zur Eintagsfliege abgetan“, sagt Goellner und ergänzt: „Heute geht es noch rasender. Social Media erhöht diesen Druck zusätzlich. Als Profi bekommst du ungefiltert und in Echtzeit das Feedback der Fans. Das macht etwas mit dir.“

Djokovic nimmt seit vielen Jahren Mentaltraining

Die Höhen und Tiefen kommen für Tennisprofis in einer ungeheuren Geschwindigkeit. Nur die wenigsten Spieler und Spielerinnen schaffen es, konstant auf einem hohen Niveau zu bleiben. Ein Beispiel ist Novak Djokovic. Der Serbe wird auch bei den ATP-Finals in Turin wieder als Top-Favorit gehandelt. Djokovic nimmt bereits seit vielen Jahren Mentaltraining und arbeitet nicht nur akribisch an seiner sportlichen Perfomance, sondern auch an seiner mentalen Stärke. Um dauerhaft zur absoluten Tenniselite zu gehören, ist das unabdingbar. Das bestätigt auch Goellner: „Atem-, Konzentrations- und Meditationsübungen mit einem Mentalcoach helfen den Fokus zu schärfen, das gilt sowohl für die Zeit nach Niederlagen als auch nach Siegen.“

Ein solcher Coach ist Felix Grewe. Der studierte Sportjournalist und frühere Pressesprecher des Deutschen Tennis Bundes (DTB) arbeitet heute als zertifizierter Facilitator der „The Inner Game“-Methode von Timothy Gallwey, der schon in den 70er Jahren mit seinem Buch „The Inner Game of Tennis“ einen Weltbestseller landete. „The Inner Game“ basiert auf der Erkenntnis, dass Menschen immer zwei Spiele spielen: Ein Äußeres und ein Inneres. Beim äußeren Spiel geht es um Leistungsziele und Aufgaben, die zu bewältigen sind. Das innere Spiel beschäftigt sich mit Themen wie Zweifeln, Ängsten und Sorgen. „Die zentrale Formel der Methode lässt sich kurz zusammenfassen“, sagt Grewe: „Die Leistung eines Menschen entspricht immer seinem Potenzial abzüglich der Störungen. Die Störfaktoren können von außen und innen kommen.“

„Erfahrung ist der beste Lehrer“

Der 36-Jährige arbeitet vor allem mit Amateursportlerinnen und Amateursportlern zusammen, sieht jedoch viele Parallelen zu den Tennisprofis: „Tennis ist ein Spiegel des Lebens. Gefühle wie Mut, Hoffnung, Vertrauen, Angst oder Zweifel, mit denen wir Menschen alle jeden Tag in unserem Leben konfrontiert werden, spielen auch auf dem Tennisplatz eine wichtige Rolle.“

Ein Credo der „The Inner Game“-Methode: Erfahrung ist der beste Lehrer! Grewe: „Rückschläge gehören zum Leben – natürlich auch bei Sportlern. Mentale Krisen entstehen erst, wenn man sich zu sehr mit seinen Niederlagen identifiziert. Jedes verlorene Match liefert jedoch wichtige Erfahrungen, an denen Spielerinnen und Spieler wachsen können. Das ist eine Perspektive, die helfen kann.“

Erfahrung kann besonders in Stresssituationen während eines Matches den entscheidenden Unterschied machen. Kommen wir damit zurück zu den ATP-Finals: Vom 14. bis 21. November 2021 schlagen die derzeit acht besten Spieler der Weltrangliste in Turin auf. Das Turnier gilt als inoffizielle Tennis-WM und genießt als Saisonabschluss nach den vier Grand Slams die größte Bedeutung unter Tennis-Profis. Die vier Top-Favoriten sind Djokovic, Vorjahressieger Daniil Medvedev, Stefanos Tsitsipas (ATP-Finals-Sieger 2019) und Alexander Zverev (ATP-Finals-Sieger 2018) aus Deutschland. An Erfahrung und dem Umgang mit mentalem Druck während eines Matches mangelt es vor allem Djokovic nicht. Das unterstreicht die Statistik: Der 34-Jährige hat nach einem verlorenen ersten Satz 44 Prozent seiner Matches gewonnen. In der Tennis-Geschichte weist nur Rod Laver mit 50 Prozent eine bessere Bilanz auf. Die Werte von Zverev (Platz 18; 36 Prozent), Medvedev (Platz 32; 33 Prozent) und Tsitsipas (Platz 36; 32 Prozent) sind zwar ebenfalls stark, jedoch nicht auf dem Top-Niveau von Djokovic.

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Noch interessanter wird es mit Blick auf die Statistik nach einem gewonnenen ersten Satz: Djokovic ist hier mit 96 Prozent der beste Tennis-Profi aller Zeiten. Medvedev (Platz 16, 90 Prozent) ist immerhin noch in Schlagdistanz und damit weit vor Zverev und Tsitsipas, die in dieser Rangliste nicht einmal den Top-100 angehören.

Djokovic ist der beste Beweis dafür, dass die Kombination aus Erfahrung und akribischem Training auf, aber besonders auch neben dem Platz, ein Schlüssel zum Erfolg ist.

„Wenn sich wie bei den ATP-Finals die acht besten Spieler messen, dann machen oft Nuancen den Unterschied. Der mentale Bereich ist auf diesem Level häufig das Quäntchen, das zwischen Sieg und Niederlage entscheidet“, sagt Grewe, und nennt Djokovic neben Daniil Medvedev als seinen Top-Favoriten auf den Sieg in Turin: „Djokovic ist ein Beispiel dafür, wie Erfahrungen in einem Menschen wirken. Er hat in seiner Karriere unzählige Partien gedreht, in denen er deutlich zurücklag. Und er weiß, dass er auch mit Rückschlägen umgehen kann.“

Zverev hat sich stark entwickelt

Grewe weist darauf hin, dass Zverev im vergangenen Jahr einen „enormen Schritt nach vorn“ gemacht habe und ein Sieg des 24 Jahre alten Hamburgers in Turin keine Überraschung wäre: „Die Art und Weise seines Sieges bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio hat mich beeindruckt. Er hat sich im Halbfinale trotz großen Rückstands gegen Djokovic durchgesetzt und wirkt in den großen Matches inzwischen fokussierter als noch vor ein, zwei Jahren.“

Auf Top-Niveau ist besagter Fokus entscheidend. Diese These stützt auch Prof. Dr. Oliver Stoll. Der sportpsychologische Berater arbeitet mit Profis aus den unterschiedlichsten Sportarten zusammen. Zu den wichtigsten Inhalten seines Coachings gehört die mentale Vorbereitung auf Stresssituationen. „Bei Stress fährt der Körper die Aktivierung hoch. Der Kopf schaltet um auf Kampf- oder Fluchtaktion. Dieser Mechanismus sitzt tief in unserer DNA und ist tausende Jahre alt. Wenn Menschen damals im Wald Säbelzahntigern begegnet sind, gab es zwei Optionen: kämpfen oder flüchten“, sagt Prof. Dr. Stoll. Bei einem Tennismatch geht es gewiss nicht um Leben und Tod, doch der Mechanismus im Kopf ist derselbe. Die Körper der Tennisprofis können weit über den Aktivierungsstand hinaus sein, der hilfreich für sie sei, erklärt Prof. Dr. Stoll: „Das zeigt sich dann im Spiel. Die Technik ist nicht mehr sauber, Schläge sind nicht mehr präzise.“

Intrapersonelle Kommunikation schärft den Fokus

Prävention ist daher ein wichtiges Tool, um derartige Situationen im Kopf gar nicht erst entstehen zu lassen. „Ich bereite Athletinnen und Athleten auf diese Stresssituationen vor. Die Aktivierung kann im Vorfeld eines Wettkampfes bewusst beeinflusst werden. Sportart-übergreifend haben Profis während eines Wettkampfes häufig Gedanken, die sich mit dem Resultat auseinandersetzen. Das ist ein Fehler, da sie sich nicht mit der aktuellen Aufgabe beschäftigen. Mit unterschiedlichen Trainingsmethoden der intrapersonellen Kommunikation können sich die Profis jedoch ins hier und jetzt zurückholen. Dann denken sie nicht mehr über Konsequenzen nach, sondern konzentrieren sich ausschließlich auf die aktuell anstehende Aufgabe“, sagt Prof. Dr. Stoll.

Wie Goellner und Grewe wünscht sich auch Prof. Dr. Stoll einen reflektierten Umgang mit Tennisprofis: „Die Medien zeigen uns die Champions und die Geschlagenen, aber alles was nach dem Wettkampf passiert, bekommen wir nicht zu sehen. Am Ende sind diese Superstars auch nur Menschen aus Fleisch und Blut.“

Rund 100.000 Kilometer Reisestrapazen pro Saison

Tennis ist eine Einzelsportart, bei der die Profis auf dem Court viel Zeit haben, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Außerhalb des Platzes ist das Leben mit vielen Terminen verbunden, hinzu kommt der Reisestress. Zverev ist allein während der Saison 2021 rund 100.000 Kilometer gereist und hat dabei zehn Mal die Zeitzone gewechselt. „Das Pensum als Tennisprofi ist enorm. Man gewöhnt sich jedoch schnell an die Reisestrapazen und findet Wege, sich zu erholen“, sagt Goellner, der seit einigen Jahren eine nach ihm benannte Tennis-Akademie in Köln leitet.

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Goellner hat für die Zukunft viel vor: „Die guten Dinge, die ich gemacht habe, möchte ich den Nachwuchstalenten weitergeben. Andererseits habe ich auch einige Fehler gemacht und häufig den Fokus verloren. Den zukünftigen Generationen will ich beibringen, dass man problemlos beides sein kann – Mensch und Tennisprofi. Auch ich habe während meiner Karriere Turniere abgesagt, weil ich mich mental nicht wohlgefühlt habe.“

Die ATP-Finals wird sich Goellner vom heimischen Sofa aus anschauen. Sein Favorit auf den Titel ist Medvedev. Aus deutscher Sicht drückt er jedoch Zverev die Daumen und wäre nicht überrascht, wenn dieser nach der Goldmedaille bei Olympia auch die ATP-Finals gewinne.

Die Revolution muss gestartet werden

Mittlerweile hat Goellner genug Abstand zu seiner aktiven Karriere gewonnen und geht seine heutigen Aufgaben mit vollem Elan an: „Mir geht es besser denn je. Ich habe einen wundervollen Job und stehe weiterhin auf dem Tennisplatz, dort wo ich hingehöre. Es gibt aber noch eine Menge zu tun. Wir alle sollten uns als Gesellschaft dafür stark machen, frei über unsere Schwächen und Ängste reden zu können. Osaka und Fish haben Pionierarbeit geleistet. Jetzt liegt es an uns, dass wir die von Roger Federer geforderte Revolution starten.“