Die letzten Sekunden des Finals der Handball-EM 2022 in Ungarn und der Slowakei laufen. Im Spiel zwischen der deutschen Handball-Nationalmannschaft und dem kroatischen Team steht es kurz vor Schluss unentschieden. In der letzten Aktion bekommt Rechtsaußen Timo Kastening den Ball zugespielt und überwindet den gegnerischen Torhüter mit einem Dreher. Deutschland jubelt in Budapest – und ist zum dritten Mal nach 2004 und 2016 Handball-Europameister. So weit, so illusorisch. Schließlich startet die EM erst am 13. Januar. Doch im oben beschriebenen Szenario gibt es ein kleines Detail, das nicht einmal Erwähnung findet. Trotzdem wäre die Wahrscheinlichkeit umso größer, dass Kastenings Dreher nicht im gegnerischen Tor gelandet wäre, wenn es dieses kleine Detail im Handballsport nicht geben würde. Der Name: Harz.

Harz und Handball – das gehört zusammen wie Tennis und Schläger, wie Basketball und Korb. Anders als der Tennisschläger und der Basketballkorb ist Harz allerdings nicht essenziell notwendig, um Handball zu spielen. Genau aus diesem Grund gibt es seit Jahren eine Debatte um das zähflüssige Material, das auf der einen Seite Handballspiele deutlich attraktiver aussehen lässt, auf der anderen Seite schädlich für Umwelt und Gesundheit ist. Betway Sportwetten hat sich genauer mit dem Thema Harz befasst – und einen ehemaligen Handball-Profi dazu befragt.

„Als ich 1979 angefangen habe, Handball zu spielen, war Harz noch nicht so dominierend wie heutzutage. Wir hatten damals im sogenannten Trainingszentrum in Potsdam noch einen ‚in die Jahre gekommenen‘ Trainer, der vom Feldhandball kam. Er hat Wert darauf gelegt, dass wir Handball auch ohne Harz als ‚Hilfsmittel‘ spielen konnten“, erinnert sich Carsten Ohle. Der 52-Jährige blickt auf eine glanzvolle Profikarriere als Torhüter zurück, in der er nicht nur ein Länderspiel für die DDR absolvierte, sondern auch für die Füchse Berlin und dem THW Kiel in der Handball-Bundesliga spielte. Mit Kiel wurde er in den Jahren 1995 und 1996 Deutscher Meister. „Flächendeckend durchgesetzt hat sich der Einsatz von Kunstharz aus meiner Erinnerung heraus so Mitte der 1980er-Jahre“, sagt Ohle.

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Kunstharze zählen zu Kunststoffen und diese haben in der Industrie das üblicherweise aus Bäumen austretende Naturharz weitestgehend verdrängt. Dieser Trend lässt sich auch auf den Handball übertragen. Das hat vor allem Kostengründe. Die jährlichen Reinigungskosten für einen Handballverein, in dessen Halle Haftmittel benutzt werden dürfen, belaufen sich auf mehrere 10.000 Euro. Das können sich nicht alle leisten. Mittlerweile gibt es zwar Kunstharze, die sich deutlich leichter entfernen lassen als andere, dennoch ist der Einsatz von Haftmitteln ein kostspieliges Unterfangen. Vor allem für Amateurvereine, in denen noch nicht die modernsten und teilweise wasserlöslichen Kunstharze zum Einsatz kommen. „Je höher man spielt, desto eher wird Harz toleriert. Das war schon vor 20 Jahren so und hat sich seitdem nicht geändert. Als ich beim 1. SV Concordia Delitzsch in der 2. Bundesliga gespielt habe, konnte man teilweise den Hallenboden in der Tornähe nicht mehr deutlich erkennen, weil er aufgrund des Harzes schwarz gewesen ist. Das war durchaus normal.“

Im Amateurhandball gibt es viele Vereine, die keinen Einsatz von Haftmitteln erlauben. Aus dem Profihandball hingegen ist Harz nicht wegzudenken – zumindest theoretisch. Praktisch sieht es anders aus: Im Jahr 2016 eskalierte die jahrelange, internationale Harz-Debatte. Hassan Moustafa, der Präsident der Internationalen Handballföderation (IHF), wollte das Benutzen von Harz im Handball weltweit verbieten lassen.

Die Aussage des Handballweltverbandchefs stieß vor allem bei unzähligen nationalen Verbänden auf Unverständnis. Moustafa ruderte daraufhin zurück und argumentierte, dass der Einsatz eines selbstklebenden Balls, in dessen Entwicklung zum damaligen Zeitpunkt bereits eine Million Euro geflossen waren, ebenso lediglich eine Idee gewesen sei wie das Harz-Verbot.

„Der selbstklebende Ball ist eine wunderbare Idee, aber (…)“

„Ein selbstklebender Ball als Alternative ist durchaus interessant. Dann müsste im Umkehrschluss Harz aber konsequenterweise verboten werden. Denn auch trotz eines selbstklebenden Balls werden die Profis weiterhin in die Harzeimer greifen“, sagt Ohle, der heutzutage in der Rechtsabteilung eines Unternehmens arbeitet und dem Trainerteam des Berliner Handball-Oberligisten BTV 1850 angehört. Seine Hoffnung steckt er in die Forschung: „Der selbstklebende Ball ist eine wunderbare Idee, sie muss aber noch weiterentwickelt werden, da die Haftdauer des Balls bislang noch zu kurz ist.“  Vielmehr sieht Ohle beim Thema Harz eine Chance: „Ich hoffe, dass irgendwann ein Mittel entwickelt wird, das ähnliche Eigenschaften wie Kunstharz hat, aber schneller abzubauen und ökologisch und ökonomisch fairer ist. Wenn man beispielsweise ein Mittel entwickelt, das einige Stunden klebt und danach zu Staub oder Sand zerfällt, würde uns das viele Debatten ersparen.“

So weit ist man bei der Entwicklung eines Harz-Ersatzes jedoch noch nicht. Die bereits angesprochenen wasserlöslichen Kunstharze sind zwar ein positiver Schritt, doch auch diese bleiben noch zu sehr an den Hallenböden haften. Regelmäßige Reinigungen der Hallen sind daher unumgänglich.

Weitere negative Aspekte des Harzes sind, dass durch den Klebstoff die Kleidung der Teams schneller zerstört wird und Risse in der Haut entstehen können. Doch auch hier sieht Ohle eine gute Entwicklung: „Ein ehemaliger Teamkollege hat sich vor vielen Jahren zu Beginn der Saison mal ein eigenes Harzmittel ansetzen lassen. Das ‚Zeug‘ haftete sehr gut, jedoch hatten wir alle nach längerer Benutzung kleine Hautablösungen in den Fingerkuppen. Das war schon grenzwertig.“ Diese Experimentierfreude gibt es heute nicht mehr: „Die Spieler achten alle sehr auf ihre Gesundheit und Pflege. Es gibt viele Öle, mit denen man das Harz problemlos von der Haut entfernen kann“, sagt Ohle.

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Die Debatte um Harz wird immer wieder aufkommen, solange es kein exzellentes Ersatzmittel geben wird. Ohle selbst kann sich Handball ohne Harz nicht vorstellen: „Das Handball-Publikum kommt in die Hallen, um ein schnelles und attraktives Spiel zu sehen. Ohne den Einsatz von Harz würde der Handball womöglich wieder um Jahrzehnte zurückgeworfen werden.“ Die Folge: Weniger Publikum bei Großveranstaltungen wie der nun startenden EM. Weniger Publikum ist gleichbedeutend mit weniger Sponsoren und weniger Geld, das umgesetzt wird.

Ob Kastening beim EM-Finale am 30. Januar in Budapest wirklich die Chance auf den entscheidenden Treffer bekommt, beurteilt Ohle skeptisch: „Das DHB-Team hat nach dem Ausscheiden einiger etablierter Spieler wie beispielsweise Uwe Gensheimer natürlich ein anderes Gesicht als die Jahre zuvor. Einigen Spielern fehlt möglicherweise die internationale Erfahrung. Dies ist aber auch eine Chance, über sich hinaus zu wachsen. Ich traue der Mannschaft daher eine Überraschung zu und bin optimistisch, dass sie das Halbfinale erreichen kann. Meine Top-Favoriten auf den Titel sind Frankreich und Dänemark.“

Eines ist sicher: Wer auch immer den siegbringenden Treffer für seine Nation erzielen wird – er wird es mit Harz an den Fingern tun.