Ein 42 Kilometer langes Kulturgut: Warum der Berlin Marathon so viel mehr als ein Sportereignis ist
Der Marathon in Berlin gehört nicht nur zu den sportlichen Highlights der Hauptstadt.
Auf der ganzen Welt fiebert die Laufgemeinschaft jedes Jahr aufs Neue auf das einzigartige Sportevent hin. Kurz vor dem Start Ende September hat Betway genauer hingeschaut und herausgefunden, was den Marathon in Berlin so besonders macht.
Die Strecke schlängelt sich 42,195 Meter lang durch Berlin, gesäumt ist sie von Denkmälern, historischen Plätzen, Zuschauern, Sanitätern, Helfern – und Musikern. Etwa alle 500 Meter steht eine Band, die mit ihrer Musik zu der einmaligen Atmosphäre des Berlin Marathons beiträgt. Hierbei ist nichts dem Zufall überlassen: Die Gruppen werden von John Kunkeler koordiniert, den der Lauf durch die deutsche Hauptstadt seit fast 40 Jahren begleitet.
Was sind die Geräusche eines Marathons? Schritte auf Asphalte, gedämpft oder energisch, das Rascheln von Multifunktionsklamotten, scheuernde Laufhosen, regelmäßige Atemzüge, die konzentrierter und schneller sind als die im Alltag: Das Abklatschen der Hände zwischen Athleten und Zuschauern, das Knistern der Verpackungen von Energie- und Kalorienriegeln und sich knackend zusammenziehende Wasserflaschen sind Töne, die auf der Strecke nicht wegzudenken sind. Jeder dieser Klänge ist eingebettet in eine laute Geräuschkulisse aus Rufen, Trillerpfeifen und Applaus. Kaum ein anderer kennt diese Sport-Symphonie besser als John Kunkeler.
Im Laufe seines Lebens ist Kunkeler 108 Mal den Marathon gelaufen, 15 dieser Läufe in Berlin. 1983 hat er das erste Mal teilgenommen und ist somit einer der Läufer, die sowohl vor der Wende als auch danach durch die wiedervereinigte Hauptstadt gelaufen sind. Kunkeler hat den Marathon begleitet und als Streckenplaner maßgeblich geprägt: Er ist der Kopf hinter der Strecke, auf der seit Jahrzehnten in beeindruckender Frequenz Weltrekord um Weltrekord gebrochen wird.
Die wohl schnellste Strecke der Welt
Die meisten Läufer wollen am Anfang zu viel und starten vor lauter Aufregung und überbordender Motivation zu schnell. Diese Energie, die sie in den Anfang stecken, fehlt ihnen oft, wenn die Kilometer im Verlaufe des Wettbewerbs immer länger zu werden scheinen. „Ein Marathon ist die Kunst des Verteilens“, kommentiert Kunkeler dieses Phänomen pragmatisch. Dieser kurze Satz beschreibt nicht bloß die Herausforderung, der sich die Athleten gegenübersehen, sondern auch den Verantwortungsbereich von John Kunkeler.
Der Marathonlauf ist einer der ältesten Sportwettbewerbe der Menschheitsgeschichte: Der Legende nach soll sich vor etwa 2000 Jahren ein Läufer nach dem Sieg der Athener in der Schlacht von Marathon auf den knapp 40 Kilometer langen Weg nach Athen gemacht haben, wo er nach Verkündung seiner Botschaft: „Wir haben gesiegt“ tot zusammengebrochen sei.
Von dort aus schafften es die 42 Kilometer allerdings nicht ohne Umwege zu den Olympischen Spielen: Erst 1921 legte der Internationale Verband für Leichtathletik (IAAF) die Distanz von 42,195 Kilometer als offizielle Streckenlänge fest.
Als John Kunkeler sich an die Arbeit an der aktuellen Marathonstrecke in Berlin macht, gilt es noch wesentlich mehr zu berücksichtigen: Die Rennstrecke muss über Asphalt oder über Beton führen und dabei möglichst eben sein. Auf 1000 Metern darf es maximal einen Höhenunterschied von einem Meter geben. Auf die Gesamtdistanz gerechnet bedeutet dies, dass ein Marathon nie mehr als 42 Meter Neigung oder Senkung der Strecke beinhalten darf. Der Hintergrund ist sportlich: Nur auf diese Weise kann eine Vergleichbarkeit zwischen den tausenden unterschiedlichen Marathonstrecken der Welt gewährleistet werden.
Die Berliner Strecke orientiert sich zwar jedes Jahr an der gleichen Route, aufgrund von Baustellen oder Sperrungen, die die Route zu minimalen Abweichungen zwingt, muss sie jedoch jedes Mal komplett neu vermessen werden. Kunkeler widmet sich dieser Aufgabe mit Leidenschaft und allerhand Erfahrung, die er bei Marathonvermessungen auf der ganzen Welt gesammelt hat. Die Vermessung der 42 Kilometer muss penibel geplant werden: Ein Messgerät, ein sogenannter Jones Counter, wird an einem Fahrrad angebracht. Das Rad wird anschließend auf einer Muster-Strecke geeicht, sodass das Messgerät die exakte Distanz aufzeichnet.
Dann gilt es, sich mit der Polizei abzustimmen, denn Kunkeler wird bei seiner Arbeit von Streifenwagen eskortiert. Der Hintergrund: Am Wettbewerbstag werden die Läufer über die gesamte Breite der dann gesperrten Straße ausschwärmen, um beispielsweise bei Linkskurven die kürzeste mögliche Route laufen zu können. Kunkelers Aufgabe ist die Ausmessung exakt dieser Ideallinie, für die er beim Vermessen auf seinem Fahrrad auch in den Gegenverkehr einbiegen muss. Damit er dabei unversehrt bleibt, macht er diese Fahrt in den Morgenstunden eines Wochenendtages und unter dem Schutz der Polizei.
Die jetzige Strecke führt die Läufer einmal durch die komplette Hauptstadt. Dass der Lauf einmal einen so weiten Kreis ziehen würde, war am 8. November 1964 noch nicht abzusehen, als mit dem „Berliner Crosslauf am Teufelsberg“ der Grundstein für eine der größten Läufe der Welt gelegt worden ist. Die Veranstaltung entwickelte sich zu einer beliebten Instanz der Berliner Sportszene, sodass das Event ausgeweitet wurde: 1974 fand der 1. Berliner Volksmarathon statt, 244 der 286 angemeldeten Läufer liefen am Mommsenstadion im Westberliner Stadtteil Charlottenburg ins Ziel ein.
Inzwischen beenden nahezu 45.000 Athleten ihren Marathon, indem sie das Brandenburger Tor passieren. Das Berliner Wahrzeichen war 1990 das erste Mal Teil der Strecke – ein historischer Moment für alle Athleten, die in diesem Jahr angetreten sind: Am 30. September 1990, fast ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und drei Tage vor der deutschen Wiedervereinigung, wurde der Berlin Marathon dem Ausmaß seines Namens endlich gerecht und durfte das Teilnehmerfeld durch die gesamte Stadt führen.
Der Berlin Marathon ist heute ein mediales Großereignis, das weltweit im Fernsehen übertragen wird. Die Protagonistin: Die Strecke. John Kunkeler ist der Kopf hinter dem Streckenverlauf, der seit 2003 abgelaufen wird. Dahinter stecken zwei Jahre intensive Arbeit, denn es müssen nicht bloß die Vorgaben über Untergrund, Länge und Neigung berücksichtigt werden, sondern um die Freigabe von Behörden und Sicherheitsstellen zu bekommen, auch andere Parameter bei der Planung berücksichtigt werden. Es sollen möglichst viele Sehenswürdigkeiten passiert werden, Anwohner nicht eingeschränkt und die Zufahrten zu Krankenhäusern und Rettungswegen freigehalten werden.
Nachdem es Kunkeler gelungen war, eine Strecke festzulegen, die all dem entsprach, hagelte es dennoch Kritik: Die Fachpresse zerriss die neue Route und äußerte größtes Unverständnis, die Strecke, auf der einige Weltrekorde aufgestellt wurden, abzuändern. Diese Kritik war nicht von großer Dauer: Bei der Premiere der Strecke wurde der erste offizielle Marathon-Weltrekord aufgestellt: Paul Tergat aus Kenia lief mit 2:04:55 als erster Mann unter 2:05 Stunden.
Was in den 80er-Jahren noch als exotisch galt, ist längst als Breitensportart anerkannt: Das größte Marathon-Event der Welt findet alljährlich in New York statt. 2019 liefen dort 53.500 Menschen in der amerikanischen Metropole über die Ziellinie. Der Berliner Marathon spielt mit den knapp 45.000 Teilnehmenden in der gleichen Liga und gehört zu den größten Sportveranstaltungen der Welt.
Der Berliner Marathon wird angeführt von den besten Läufern der Welt, die sich in der deutschen Hauptstadt Hoffnungen auf den Weltrekord machen: Aktuell liegt dieser bei 2:01:39 und wird von dem Kenianer Eliud Kipchoge gehalten, der den Rekord 2018 auf der Berliner Strecke aufstellte. Alljährlich beschäftigt die Sportwelt die Frage: Schafft es erneut jemand, den Rekord zu brechen oder gar die Marathondistanz in weniger als zwei Stunden zurückzulegen? Bisher ist das nämlich unter Wettbewerbsbedingungen noch keinem Menschen gelungen.
Doch vielleicht ist es in diesem Jahr so weit. Denn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese Sensation in Berlin gelingt, ist groß: Die Strecke ist die unangefochtene Strecke der Weltrekorde. Elfmal ist dieser beim Berlin Marathon bereits unterboten und damit neu aufgestellt worden.
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Der Rhythmus der Berliner Marathonstrecke
Geschwindigkeit besteht aus der perfekten Kombination zwischen Schrittlänge, Druck und der Frequenz der Schritte. Um hier von den ersten, wichtigen Schritten des Laufs an in die ideale Gleichmäßigkeit zu finden, werden auf den ersten Streckenmetern weiße Markierungen platziert, die der Lauf-Elite eine erlaubte kleine Hilfestellung geben, um so schnell und effektiv wie möglich in den Rhythmus des Marathons zu kommen, der sie bestenfalls in neuer Rekordzeit zum Ziel führen wird.
Der Takt eines Läufers ist regelmäßig: Jeder Schritt zieht im immer gleichen Abstand den nächsten nach sich. Das Tempo hält sich auf diese Weise über Kilometer hinweg auf dem immer gleichen Level, das über ebenmäßigen Teerboden und gradlinigen Beton führt. Der Kontrast zum Jazz könnte kaum größer sein, denn Jazzrhythmik zeichnet sich wesentlich durch eine gewisse Unregelmäßigkeit aus: Der polyrhythmische Charakter der Musikrichtung lässt den Interpreten mannigfaltige Freiheiten für intensive Improvisationen und spontane Interaktionen.
John Kunkeler betreibt seit 26 Jahren (1996) eine Jazz-Kneipe im Berliner Stadtteil Mitte. Er lebt und liebt die Musik, die er seit 1998 in sein Engagement für den Berlin Marathon einfließen lässt: Seit dem Ende der 90er-Jahre organisiert Kunkeler das musikalische Rahmenprogramm, das der Strecke eine ganz eigene Geräuschkulisse einzuhauchen vermag. Im Gegensatz zu anderen Musikrichtungen ist der Jazz grundsätzlich nicht auf elektronische Verstärkung angewiesen: Die Instrumente klingen für sich laut genug, um auch ein größeres Publikum erreichen zu können und mischen sich auch ohne technische Unterstützung so gut, dass Jazz-Kombos die ideale Besetzung, um eine Outdoor-Veranstaltung musikalisch zu begleiten.
Eine einfach technische Umsetzung ist das A und O für eine Band, die im Rahmen des Berlin Marathons auftreten möchte. Dies bedeutet für manche Musikgruppen das frühe Aus im Bewerbungsprozess: Es können keine Bühnen aufgebaut oder Starkstrom bereitgestellt werden. Die Stromversorgung, die es direkt an der Strecke gibt, wird von Anwohnern bereitgestellt oder von Gastronomiebetrieben gestiftet, die für die Dauer des Auftritts ein Verlängerungskabel an eine herkömmliche Steckdose koppeln.
Strom kann allerdings auch in anderen Kontexten zum Problem werden: Alle Bands sind mit Pavillons gerüstet, um im Zweifel auch stärkerem Regen trotzen zu können. Wenn die Instrumente ausreichend geschützt sind, ist das für eine wetterfeste Jazz-Kombo völlig ausreichend. Elektronisch verstärkte Musik müsste in diesem Fall aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden.
Der Berliner Marathon überdeckt für einen Tag die gesamte Hauptstadt: Zu den knapp 45.000 Startern kommen rund eine Million Zuschauer hinzu, die an der Strecke stehen und die Teilnehmer ausdauernd anfeuern, motivieren und zu persönlichen Bestleistungen anspornen. Diese Mengen drängen sich an den zentralen Punkten der Strecke: Start und Ziel zum einen, zwischendrin sind besonders jene Punkte hochfrequentiert, die gut erreichbar, also an S- oder U-Bahnhaltestellen gelegen sind.
Auf diese Menschenströme hat John Kunkeler keinerlei Einfluss – aber er hat sie über Jahre hinweg studiert, sich eingeprägt und das Konzept für die Musiker daran angepasst. Denn für Kunkeler steht fest: Die Musik soll die Athleten anspornen und nicht als zusätzlicher Entertainment-Punkt für die Zuschauer etabliert werden. Er sucht bei der Streckenplanung also jene Teile der Strecke, an denen sich wenig Schaulustige tummeln, um dort eine der Bands zu platzieren, die sich im Vorhinein bei ihm angemeldet hat.
Hier den Überblick über Kommunikation und Abstimmungen zu bewahren, bedarf eines kühlen Kopfes und allerhand Nerven, denn aufgrund der Tatsache, dass Jazz-Kombos häufig viele Mitglieder haben, bedeutet eine Betreuung der Musiker beim Berlin Marathon die Koordination von 700 bis 800 Leuten. Die wenigsten davon fragen nach einer Gage: Gut 2/3 der Bands spielen an diesem Tag unentgeltlich – und das Jahr für Jahr. Die Quote der Wiederholungstäter ist beachtlich, sodass die Anzahl der teilnehmenden Bands in den letzten 20 Jahren rasant angestiegen ist:
2022 stehen 60 Bands am Streckenrand. Platziert mit einem sinnvollen Abstand zu Menschentrauben, was bedeutet, dass die ersten Gruppen erst ab Marathon-Kilometer 5 anzutreffen sind. Von dort an tauchen sie in einem Abstand von etwa 500 Metern zueinander auf.
Mit Blick auf den Streckenverlauf bedeutet das ein mitunter riesiger Unterschied in der Spieldauer: Während die Bands, die an Kilometer 7 platziert worden sind, nach etwa einer Stunde bereits abbauen können, spielen Gruppen, die an Kilometer 35 stehen, mitunter sechs oder sieben Stunden durchgängig.
Für die Musiker ist das Event ein absolutes Highlight: Keinem von ihnen wird an diesem Tag die Puste ausgehen. Je nach Bezirk hätten aber mitunter schonmal Anwohner ihren Unmut über die Musik kundgetan, erzählt Kunkeler: „In Charlottenburg und Wilmersdorf sind viele Leute genervt von der Musik. Hier wurde auch schonmal Wasser vom Balkon gekippt.“
Grundsätzlich ist die Stimmung den Musikern gegenüber aber wohlgesonnen. Zumindest, solange sie den offiziellen Weg über die Anmeldung bei John Kunkeler gehen. Denn nur dann ist das Ordnungsamt über den Auftritt informiert. Bands, die unangemeldet auftreten und bei einer Kontrolle eine Genehmigung vorweisen können, riskieren eine Anzeige.
Bis er 64 Jahre alt war, ist John Kunkeler Marathon gelaufen. „Heute jogge ich nur noch mit meinem Enkel, ganz entspannt“, sagt er. In die Organisation und Durchführung des Berlin Marathons ist er als letzter ehrenamtlicher Mitarbeiter trotzdem noch in verantwortungsvoller Position eingebunden: Am Renntag fährt er im Auftrag des Leichtathletik-Weltverbandes auf dem Rad hinter der Spitze des Teilnehmerfeldes hinterher. Er muss verifizieren, dass die Top-Stars des Wettbewerbs sich an die von ihm festgelegte Streckenführung halten. Von dem Sattel seines Fahrrads aus hat das Ergebnis seiner Arbeit im Blick: Die Bands, die die Sportler auf ihrem Weg Richtung Brandenburger Tor begleiten – und vielleicht sogar zum nächsten Weltrekord.
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